Interferenzen – Über deutsch-türkische Übersetzungsprobleme in philosophischen Denkschriften

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Wer im Ruhrgebiet schon einmal eine Schule besucht hat, der weiß, dass dort viele Sprachen und Kulturen aufeinander treffen. In meiner Gesamtschule im Kreis Recklinghausen bin ich täglich mit Interferenzfehlern meiner Schüler konfrontiert. Bewusst oder unbewusst werden Sprachstrukturen der Erstsprache ins Deutsche transferiert, sodass lustige, für den deutschen Muttersprachler aber meist unverständliche Phrasen entstehen. „Dein Vaters Schule?“ und „Mein Kopf dreht sich“ sind zwei Beispiele lexikalisch-semantischer Interferenzfehler, die ich auf dem Schulhof öfter mitanhören muss. Dabei meint der Schüler mit der Frage „Dein Vaters Schule?“, dass die Schule nicht seinem Gesprächspartner gehöre, dass der Angesprochene also nicht das Sagen habe. Im Türkischen fragt man nämlich (umgangssprachlich-provokativ) so, wenn man mit der Meinung oder der Handlung des Gegenübers nicht einverstanden ist: „Burasi babanin yeri mi?“. Gemeint ist eigentlich: „Du kannst hier nicht alles bestimmen. Du bist nicht der Chef.“ Im zweiten Beispiel („Mein Kopf dreht sich“) meint der Sprecher, dass ihm schwindelig ist. Im Türkischen beschreibt man dieses Gefühl tatsächlich mit dem Ausdruck “Drehen des Kopfes”: “Başım dönüyor.” Viele Autoren beschäftigten sich bereits mit Interferenzen und Übersetzungsfehlern, so unter anderem Imider (2010), Lohse (2002) und Nord (1990).

Interferenzfehler wirken in Übersetzungen von philosophischen Basistexten fremdsprachiger Autoren umso schwerwiegender, da die Themen komplex sein können und man sehr genau auf die Bedeutung einzelner Aussagen schauen muss. Gerade auf Probleme dieser Art möchte ich in meinem Beitrag eingehen. Anlass dazu gab mir Fethullah Gülens Aufsatz „Tugend und Glück“ (Zeitschrift Fontäne Nr. 71, 2016), den ich in einem Lesekreis gemeinsam mit Freunden kürzlich analysiert habe. Hier kam der Sprachwissenschaftler in mir hervor, als ich feststellte, dass sich die semantischen Interferenzen in der Übersetzung häuften. Nord (1990) würde auch von pragmatischen und/oder kulturspezifischen Übersetzungsfehlern sprechen. Fairerweise muss man sagen, dass die Fehler nicht extrem sind wie in den Beispielen meiner Schüler. Dennoch fällt auf, dass die blumige und alltagsferne Sprache im besagten Artikel die Botschaften Gülens untergehen lassen.

Der Vorteil, den ich als türkischsprachiger Leser hatte, war die Tatsache, dass ich die Originalschrift aus dem Jahr 1982 heranziehen und vergleichen konnte. Gülen malt ein Bild tugendhafter Menschen und spart typischerweise nicht an Symbolen und Vergleichen, um sein Ideal zu vermitteln. Im Leitartikel geht es um das gesunde Maß zwischen Enthaltsamkeit und Konsum. Es werden Menschen, die von Idealen geleitet sind und solche, die sich in ihrem Ehrgeiz und ihrer Egozentrik verlieren, gegenübergestellt; diese Antithetik zieht sich durch den gesamten Aufsatz. Gülen ruft die Menschen dazu auf, ihren Charakter zu bilden und zu verfeinern, um zum wahren Glück zu finden.

So weit so gut. Die Übersetzung liest sich jedoch sehr schwierig; Ausdrücke, die im Deutschen eher ungebräuchlich sind, werden unbedacht eingesetzt. Beispielsweise „Tugend und Glück wurden stets als Zwillinge angesehen“. Diese Interferenz entsteht durch die Übersetzung des türkischen Ausdrucks „ikiz kardeş“, was so viel meint wie unzertrennlich. Warum schreibt der Übersetzer also nicht „Tugend und Glück wurden als unzertrennlich angesehen“? Dieser Übersetzungsstil – eine unmittelbare, daher der Zielsprache nicht gerecht werdende Übernahme von Begriffen und Idiomen – lässt den Zieltext durchweg unnatürlich, teils sogar unverständlich werden. Es wird von „Frühlingsbrisen“ gesprochen. Diese Brise kommt mindestens dreimal im Text vor und lässt den deutschen Muttersprachler stutzig werden. Um welche Brisen geht es hier? Was meint Gülen? “Meltem” oder “Esinti” heißt wörtlich übersetzt Brise, meint aber je nach Kontext eine bestimmte Atmosphäre und Stimmung. Weiterhin wird eine Metapher Gülens ins Deutsche transferiert: „Meer der Liebe, das von keiner Küste begrenzt wird.” Gemeint ist eine uneingeschränkte Liebe. Die Übersetzung wirkt an diesen und vielen anderen Stellen einfach nur überladen, wie es ein Freund während der Rezeption ausdrückte. Was im Türkischen durchaus angenehm klingt und von der hohen Rhetorik des Autors zeugt, wirkt im Deutschen schon teilweise absurd. Zu beachten ist, dass nicht alle problematischen Formulierungen auf Interferenzfehler zurückzuführen sind, sondern dass andere Fehlertypen und Ursachen eine Rolle spielen (kultureller und ideeller Kontext, individueller Sprachstil des Autors, …)

Fazit: Interferenzfehler in mehrsprachigen Kontexten wurden schon vielfach empirisch untersucht. Die meisten deutsch-türkischen Untersuchungen beziehen sich auf den mündlichen Sprachgebrauch (meist von Kindern und Jugendlichen). Es gibt bislang keine umfangreichen Arbeiten zu schriftlichen, insbesondere philosophischen Übersetzungen. Am Beispiel von Gülens „Tugend und Glück“ habe ich sehr kurz darauf verwiesen, dass die Übersetzungspraxis für Denkschriften noch in den Kinderschuhen steckt und dass die Zieltexte den fremdsprachigen Ausgangstexten nicht gerecht werden (zumindest nicht für das Türkische).

Offene Fragen: 1) Interessant fände ich es, wenn ein deutscher Muttersprachler ohne Türkischkenntnisse den besagten Aufsatz lesen und seine Meinung rückmelden könnte. 2) Dass der von mir kritisierte Sprachstil auf fehlender Kompetenz der Fontäne-Redaktion beruht, ist undenkbar (beachte ständige Mitarbeiter wie Wilhelm Willeke!). Warum halten die Übersetzer an den problematischen Formulierungen fest? 3) Was ist das gesunde Mittelmaß zwischen der Erhaltung des ursprünglichen Sprachstils eines fremdsprachigen Autors und der angemessenen Formulierung eines Zieltextes?

Literatur:

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