Sehr geehrter Herr Broder,
wer heute in Kategorien von „wir und ihr“ denkt und diese Form der Abgrenzung in seine Weltsicht sowie in all seine Wahrnehmungen und Ausführungen überträgt, der verliert viel, gewinnt aber wenig. In Zeiten globaler Probleme und pluralistischer Gesellschaften dürfen wir andere Menschen aufgrund ihres Glaubens nicht abgrenzen. Wir müssen uns alle gemeinsam gegen jede Form von Gewalt und Terror klar positionieren.
Gegenseitiger Respekt und die Essenz der Religionen
Sie, Herr Broder, möchte ich nicht mit einer politisch inkorrekten Form der Aus- und Abgrenzung ansprechen (vgl. „Muselmänner“), sondern ich möchte Sie zunächst als Mensch respektieren. Und genau das ist meinem Glauben nach die Essenz des Lebens – gegenseitiger Respekt und gegenseitiges Verständnis, sowie die Liebe gegenüber dem Schöpfer und der Schöpfung. Gerade diese Philosophie liegt meinem Verständnis zufolge im Kern des Islam; Rituale und Gebote folgen erst danach. Mein Unverständnis gegenüber Extremismus und Terror ist ebenso groß wie Ihres, jedoch sehe ich tatsächlich – und hier komme ich auf Ihre Frage der Unterscheidung zwischen Islam und Islamismus zu sprechen – keinen Platz für Terrorismus in irgendeinem wahren Glauben oder in der Menschlichkeit selbst. Der Terrorismus ist nach meiner Überzeugung in der Tat keine wahre Religion sondern eine Form der Unmenschlichkeit. Falls Sie sich mit den Grundlagen und der Geschichte der Weltreligionen beschäftigen würden, dann würden Sie entweder „ganz langsam“, im besten Fall aber sehr schnell erkennen, dass jede Form von Extremismus nicht den Religionen, zugeschrieben werden darf. Jede Ideologie, die zur Ermordung von Menschen sowie zum Streben nach Macht und Gewalt führt, darf nicht als religiöse, sondern muss in erster Linie als politische erkannt werden.
Täter, Taten und soziologisches Wissen
In einem sind wir uns, hoffe ich, einig: der Verachtung von Terrorismus und der Ermordung Unschuldiger. Sie fragen, inwiefern Täter und Taten überhaupt noch zu trennen sind. Die Frage erscheint merkwürdig, sogar unschlüssig. Obwohl ich kein Jurist bin, muss ich mit meinem gesunden Menschenverstand sagen: Täter und Taten sind nicht trennbar. Jeder Verbrecher ist zunächst selbst für seine Taten verantwortlich, und nicht seine Religion. Die Frage nach der Trennbarkeit steht gar nicht im Raum – Sie führen diese Frage erst auf. Mir ist nicht bekannt, warum ein vernunftgeleiteter Mensch Taten gutheißen aber Täter verurteilen sollte – oder umgekehrt. Ihr Gedankengang ist teilweise unschlüssig, in großem Maße oberflächlich.
Weiterhin führen Sie, Herr Broder, unbefangen Vermutungen und Zahlen zu Extremisten auf. Zwar sagen Sie, dass es auch christliche Radikale gibt (Beispiel Irland), jedoch liest man aus ihrem Brief ihre eigentliche Aussageabsicht deutlich heraus: Für Sie ist es ganz klar, dass die Mehrzahl der Extremisten aus dem Islam sprießen. Aus soziologischer Sicht ist aber klar: Extremismus und Terror entstehen in erster Linie aus sozialen Missständen heraus. Oft wird dann die Religion als Vorwand für die Taten genommen. Die menschenrechtliche, wirtschaftliche und soziale Schieflage im Nahen Osten zeigt, dass viele Gefahren für kriegerische Auseinandersetzungen bestehen. Der Unmut über ökonomische Umstände sowie die Interventionen westlicher Mächte werden immer wieder zu Problemen führen. Dies ist einfachstes soziologisches Wissen, was für die meisten Menschen selbsterklärend, für einige jedoch schon zu tiefgreifend ist. Es muss uns klar sein, dass es bei den aktuellen Auseinandersetzungen im Irak und in Syrien am wenigsten um Religion geht.
Die Sprache der Abgrenzung
Wohin führt der Blick à la „So viel zu mir. Und nun zu Euch“? Was impliziert die Ansprache der „Muselmänner“? Welche Nachteile bringt diese Sicht für unsere Gesellschaft? Sie, Herr Broder, betrachten die Menschen in Deutschland mit einer Brille der Abgrenzung, mit dem Unterscheidungskriterium der Religion. Dabei ist klar, dass jedes demokratisch erzogene Individuum weiß, dass Verallgemeinerungen und Abgrenzungen nicht zu einem besseren Zusammenleben beitragen können. Ihr historisches Beispiel des Nationalsozialismus birgt Lehren für uns alle, insbesondere für uns Deutsche. Damals begann die Feindschaft gegenüber Juden mit einem harmlos erscheinenden „wir und ihr“. Der Hass entwickelte sich jedoch durch diese abgrenzende und destruktive Haltung immer weiter und führte letztlich zur Katastrophe. Ihre Begrüßung ist ebenso unpassend für einen offenen und respektvollen Dialog wie ihre Gesamthaltung gegenüber den Religionsangehörigen des Islam. Dadurch verlieren Sie viel, gewinnen aber wenig. Erst ein gegenseitiger Respekt und die Anerkennung anderer Kulturen / Religionen in ihrer Gleichwertigkeit können uns zu einem friedlicheren Zusammenleben führen.
Perspektiven und eine konstruktive Arbeit
„Wie unterscheidet man ‚wahre‘ von ‚unwahren‘ Muslimen?“ – Eine wichtige Frage, die Sie deutlich aufführen. Wie kann man wissen, dass die Terroristen keine „wahren“ Muslime sind? Beten sie nicht fünfmal am Tag? Ich denke zunächst, dass Sie den Sinn und die Bedeutung der Religion auf Rituale beschränken. Der Glaube ist eine innere Angelegenheit zwischen Schöpfer und Individuum – so lehrt es uns der Islam. Rituale dienen der Annäherung an Gott, garantieren aber nicht die Frömmigkeit. Wenn Sie nun wissen möchte, wer „wahre“ und „unwahre“ Muslime, so wird Ihnen niemand eine zufriedenstellende Antwort geben können. Selbstverständlich verabscheue ich die Taten der Terrororganisationen im Nahen Osten und betrachte deren Mitglieder nicht als rechtgeleitete Muslime. Doch andersherum sehen die Kämpfer alle anderen Menschen, die ihre Ideologien nicht teilen, als Nichtmuslime an. Sie sehen also, es ist eine Frage der Perspektive. Was uns aber hier klar sein muss, ist dass Religion immer Auslegungssache ist. Manche vermögen es, das heilige Buch des Islam für das Streben nach politischer Macht auszulegen. Andere wiederum nutzen die Potenziale ihres Glaubens, um auf sozialer Ebene konstruktiv und gemeinnützig zu arbeiten, Dialog und Toleranz zu stiften. Notwendig ist es bei alledem, einen ganzheitlichen Blick zu verfolgen, und die Philosophie des Glaubens, wie er durch den Propheten Mohammed (Friede sei mit ihm) vorgelebt wurde, zu verstehen. Erst dann erkennt man, dass der Islam eine Religion des Friedens und der Toleranz ist, den Mord an einen Menschen mit dem Mord an der gesamten Menschheit gleichsetzt, den friedvollen Umgang mit Juden und Christen befiehlt, usw.
Aus dieser Perspektive resultiert auch das Bedürfnis vieler Muslime in Deutschland, an die Öffentlichkeit zu gehen, gegen den IS-Terror zu demonstrieren und sich klar zu positionieren. Auch dies ist ein Prozess, den man friedvoll und nach demokratischen Prinzipien angehen muss. Und es ist ein langwieriger und anstrengender Prozess. Als Allegorie hierzu kann man Folgendes aufführen: Die Zerstörung eines Gebäudes geht meist schnell und vergleichsmäßig einfach. Der Aufbau hingegen dauert Jahre und bedarf der Anstrengung vieler Planer und Arbeiter. Was der IS-Terror heute im Nahen Osten macht, ist eine Zerstörung der Menschlichkeit. Auch zerstören sie das Image des Islam. Daher sehen es viele Muslime als ihre Aufgabe an, dieses Gebäude zu reparieren und sich klar zu positionieren. Wer hier alle „Muslime“, also Terroristen sowie friedliebende Menschen zusammenfasst, der tut Unrecht und diffamiert sogar in gewisser Weise diejenigen, die sich aktiv bemühen. Ich denke, durch eine abgrenzende und destruktive Sichtweise tragen Sie nichts Wertvolles für unsere Gesellschaft bei.
Polemik und Handlungsalternativen
Ihre Meinung steht Ihnen zu, jedoch ist sie gekennzeichnet durch eine Abgrenzung und Abwertung des Islam. In Ihrer sarkastischen Haltung fragen Sie nach der Grenze zwischen Glaube und Terror. Dabei ist es offensichtlich, dass kein wahrhaft Gläubiger ein Terrorist und kein Terrorist ein Gläubiger sein kann. Um dieses Prinzip zu verstehen, ist es jedoch erforderlich, sich mit den Glaubensgrundlagen und den Lebensweisen der Propheten näher zu beschäftigen. Erst dann kann man von einer bloßen Infragestellung der Religion übergehen zu einer begründeten Reflexion. Wer diesen zweiten Schritt nicht gehen kann, betreibt reine Polemik, ohne sich dabei die Mühe einer tieferen Verarbeitung zu machen. Eine nähere Beschäftigung in der Atmosphäre von Respekt und Toleranz sollten auch Sie in Betracht ziehen, Herr Broder.
Zu Ihrer Befürchtung, dass bald die Muslime erneut losziehen und wieder „ein Zeichen“ setzen müssen, bleibt mir nur Folgendes zu sagen: Erst dadurch, dass Muslime aktiv werden und sich klar positionieren, können Handlungsalternativen aufgezeigt werden. Aber hier sind, denke ich, nicht nur die Muslime in der Pflicht, Position zu beziehen, sondern die Gesellschaft als Ganzes. Wir müssen uns alle gemeinsam gegen jede Form von Gewalt und Terror klar positionieren. Auch Sie können in einen konstruktiven Dialog treten und über eine gegenseitige Verständigung zu einer toleranteren Gesellschaft beitragen.
Wer die konstruktiven Bemühungen der Muslime nicht anerkennt und würdigt, wer ihre Gebete für die Opfer und die öffentlichen Zusammenkünfte nicht wertschätzt, geschweige denn wer die islamische Religion als Ganzes in Frage stellt (obwohl sie doch kein Ganzes ist, sondern in unzähligen Lebensformen und Weisen vorliegt), der äußert letztlich nur seine eigene Unwissenheit und die persönliche Intoleranz Andersdenkenden und Andersgläubigen gegenüber. Wer so handelt, verliert viele Potenziale, und gewinnt nichts.
Appell: Unsere Aufgabe
Daher bleibt mir nur zu wiederholen: Wird dürfen in diesen Tagen nicht in Kategorien von „ich und ihr“, „wir und sie“, „wahr und unwahr“, oder „die Muslime und Nichtmuslime“ denken. Wir müssen als Gesellschaft gemeinsam in Projekten gegen Extremismus und Terror arbeiten und müssen eine Atmosphäre der Toleranz und des Dialogs für unsere Kinder vorleben. Erst so dürfen wir auf eine bessere Zukunft hoffen, die geprägt ist durch Austausch und Respekt.
Mit freundlichen Grüßen,
Wolfgang Schmidt