Krieg in Nahost: Ein Kommentar aus islamischer Sicht

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Ich verfasse diesen persönlichen Kommentar aus meiner Rolle als Islamwissenschaftler heraus: Im Namen Allahs, des Allerbarmers, des Barmherzigen. Bismi ʾllāhi ʾr-raḥmāni ʾr-raḥīm.

Die oben genannte Anrufungsformel (Basmala) wird im Koran 114 Mal als Gottes Wort erwähnt. Der Islam bedeutet wörtlich “Frieden”. Eine der bekanntesten Überlieferungen des Propheten Mohammed (Friede sei mit allen Propheten) besagt, dass Muslime Menschen sind, vor deren Hand und Zunge andere Menschen sicher sein sollten (Quelle: Tirmizī, Īmān, 8). Dies bedeutet, dass wir den Islam auf der Grundlage der Quellen definieren sollten. Wenn wir als vernünftige Menschen auf das Gegenteil stoßen, sollten wir sofort erkennen, dass ein terroristischer Angriff niemals als islamisch definiert werden kann. Als Muslime tragen wir die Verantwortung, diese Welt und dieses Leben besser und friedlicher zu gestalten. Angriffe auf unschuldige Zivilisten, Kinder und ihre Mütter sind mit dem Islam, dem Christentum, dem Judentum, dem Buddhismus und dem Schamanismus nicht vereinbar. Keine dieser Religionen erlaubt es, unschuldige Menschen grundlos zu töten. “Wenn jemand einen Menschen tötet, so ist es, als hätte er die ganze Menschheit getötet” (Koran 5:32).

Als Muslim sollte man sich insbesondere auf zwei grundlegende Hauptquellen des Islams als Leitfaden konzentrieren: den Koran, den Muslime als Gottes Wort anerkennen, und die Sunna, die die Umsetzung der Lehren des Korans und das Verhalten des Propheten Mohammed (Friede sei mit allen Propheten und Gesandten Gottes) darstellt.

Es reicht jedoch nicht aus, den Koran und die Sunna nur oberflächlich zu lesen und in die Praxis umzusetzen. Es gibt vielfältige Hintergründe für jeden Vers, darunter der historische, soziokulturelle und philosophische Kontext, in dem die Verse als göttliche Offenbarungen an den Propheten Mohammed durch den Engel Gabriel gesandt wurden. Es ist von entscheidender Bedeutung, diese Hintergründe zu verstehen, um eine richtige und friedliche Lebensweise aus beiden Quellen abzuleiten. Islamische Gelehrte haben sich seit der Entstehung des Islams bemüht, diese Hintergründe und ihre Konsequenzen richtig zu interpretieren. Jede Zeit hat ihre eigenen Herausforderungen, und eine friedliche Synthese zwischen unserer Zeit und den islamischen Quellen erfordert ernsthafte Arbeit. Daher sollten sowohl die islamische Theologie als auch die modernen Wissenschaften berücksichtigt werden, um allgemeine sowie individuell anwendbare Lösungsansätze zu entwickeln. Am Ende aller Bemühungen sollten wir uns als Muslime treu bleiben und mit offenem Herzen und Mund bekennen, was frühere Gelehrte und Philosophen der islamischen Kultur und Wissenschaften nach all ihren Anstrengungen ausgesprochen haben: “Allah`u alem” (Nur der allwissende Gott kennt die Wahrheit, deren Spuren ich zu erkunden versuche).

Nach diesem Einleitungsteil möchte ich nun einen Vers aus dem Koran zitieren, bevor ich meine Gedanken zum aktuellen Nahostkonflikt erläutere: “O ihr, die ihr glaubt, bleibt fest in der Gerechtigkeit, wenn ihr Zeugnis ablegt gegenüber Gott, und sei es auch gegen euch selbst oder eure Eltern und Verwandten, ob es sich um Arme oder Reiche handelt, denn Gott steht näher als beide. Und folgt nicht der Leidenschaft, sodass ihr vom rechten Weg abweicht. Ob ihr euch auch hin und her wendet und abkehrt, siehe, Gott weiß, was ihr tut” (Koran, 4:135).

Ich zitiere gerne die präzise Erklärung dieses Verses und seiner Hintergründe von Dr. Tuba Isik, die an der Universität Paderborn forscht. Ihre Koranerklärung zu diesem Vers mit dem Titel “Das Streben nach Gerechtigkeit” wurde auf dem Deutschlandfunk veröffentlicht. Frau Dr. Isik beginnt ihre Erklärung des Verses wie folgt: “Die Sure 4 gehört zu den medinensischen Suren, d.h. den Offenbarungsversen, die dem Propheten Muhammad in der Stadt Medina offenbart wurden. Eine Zeit, in der ein Gemeinwesen unter Muslimen, Juden und Andersgläubigen etabliert wurde und folglich sich praktische Fragen des Zusammenlebens ergaben. Dieser Sure wurde der Name an-Nisa gegeben, was die Frauen bedeutet, weil es in dieser Sure an vielen Stellen explizit um die Frauen und Fragen rund um das Familienleben geht.”

Es ist bedauerlich, dass die Menschheit selbst nach tausenden Jahren immer noch nicht vollständig begreift, dass die Vielfalt der Religionen und Kulturen in einer Gesellschaft eine unschätzbare Gelegenheit zur Erweiterung unseres Horizonts darstellt. Seit etwa 70 Jahren hat die Menschheit mit unermesslichem Leid miterlebt, wie sowohl jüdische als auch muslimische Gemeinschaften im Nahostkonflikt Zivilisten angegriffen haben. Die wahren Leidtragenden dieses Konflikts sind Zivilistinnen und Zivilisten, insbesondere Kinder und ihre Eltern.

Zu Beginn der jüngsten Eskalation am 7. Oktober 2023 sah ich, dass die Hamas, eine militante Organisation, die nach meiner Meinung (und gemäß offizieller Aussagen von Mahmud Abbas) niemals die gesamte palästinensische Bevölkerung und die wahre Seite des Islams repräsentieren kann oder sollte. Die Hamas greift nicht nur militärische Ziele an, sondern auch Zivilisten. Neben Raketenangriffen auf Israel nahmen sie sogar Frauen und Kinder als Geiseln. Noch menschenverachtender war, dass sie diese Geiseln verschleppten, tote oder verletzte Geiseln auf den Straßen von Gaza zur Schau stellten und dies als ihren angeblichen militärischen Erfolg feierten. Der oben genannte Vers sollte von jedem Muslim und jeder Muslima als Zeugnis für Gerechtigkeit genommen werden. Angriffe auf unschuldige Zivilisten und die Verschleppung unschuldiger Frauen und Kinder sind nicht islamisch, ungerecht und offensichtlich menschenunwürdig.

Die schmerzhaften Konsequenzen ihrer Angriffe auf Israel sollten von der gesamten palästinensischen Gesellschaft getragen werden.  Keine militärische Aktion, sei es von muslimischer oder jüdischer Seite, kann zu diesem Zeitpunkt eine langfristige und nachhaltige Lösung bringen. 

Am 17. Oktober 2023 wurde ein Krankenhaus bombardiert, in dem Neugeborene, kranke Kinder, alte Menschen, Ärzte und Krankenschwestern anwesend waren. Es sollte keine Rolle spielen, wo sich dieses Krankenhaus befand.  Wenn unschuldige Kinder und Neugeborene sterben, darf niemand schweigen. Es genügt, Mensch zu sein, um dagegen etwas zu unternehmen. Zumindest sollten wir mutig Stellung beziehen, für unschuldige Kinder beten und für ihre leidenden Familien eintreten.

Das Mitgefühl der Muslimen für palästinensische Zivilopfer dürfte nicht direkt als Antisemitismus definiert werden. Gleichzeitig sollte dieses Mitgefühl kein Hindernis sein, um unser Mitgefühl für unschuldige jüdischstämmige Opfer vom 7.Oktober laut zu äussern. Als Juden, Christen und Muslime sollten wir alle wissen und nie vergessen, dass die Humanität eine von ersten Prioritäten und Hauptprinzipien von unseren Glauben ist.  Auf der internationalen Ebene sollte es in Kriegsfällen als das humanitäre Völkerrecht verkörpert und beschützt werden.

Vorherige Angriffe auf unschuldige palästinensische Zivilisten, die besonders auffällig während des Ramadan, dem Fastenmonat der Muslime, stattfanden, dürfen nicht legitimiert werden. Religiöse Argumente für menschenunwürdige Handlungen sind unvorstellbar und unvereinbar mit Religionen, insbesondere mit den abrahamitischen Religionen. Man könnte Beispiele jeder Art nennen, die einen lchen Missbrauch der Religion zeigen: Es gibt Verse im Koran, deren Bedeutung für jeden vernünftigen Menschen offensichtlich ist, wie zum Beispiel: “In der Religion gibt es keinen Zwang” (Koran, 2:256, Übersetzung nach Rudi Paret).

Die Vereinten Nationen (UN) haben bereits seit 1974 beide Seiten, Israel und Palästina, zu einer langfristigen und endgültigen Zweistaatenlösung für die beiden Bevölkerungsgruppen, Juden und Muslime, eingeladen (Siehe: Resolution 3236 (XXIX) – Die Palästina-Frage, Generalversammlung der Vereinten Nationen). Nur der bilaterale Dialog unter Beteiligung neutraler Vermittlerstaaten und zivilgesellschaftlicher Organisationen kann einen tatsächlichen Einfluss auf den Frieden haben. Es ist wichtig zu betonen, dass die Betrachtungsweise der jüdischen und muslimischen Gemeinschaften in Bezug aufeinander und auf der ganzen Welt eine neue Ausrichtung erfordert.

In einer globalisierten Welt leben wir alle Muslime in einer “Medina”, wo der Prophet Mohammed über die Jahre hinweg ein friedliches Zusammenleben mit anderen religiösen und kulturellen Gruppen und Gesellschaften der Stadt geschaffen hat. Wir schulden es unserer Zeit und den kommenden Generationen, zu erkennen, dass eine unbegrenzte Radikalisierung unserer Menschlichkeit langfristig schadet und diese abtötet. Wir dürfen keine Brutalität und Barbarei zulassen, unabhängig davon, von wem sie ausgehen und warum. Der Terror darf zu keiner Religion gehören. Vor allem diejenigen, die irrational, aus egoistischen Interessen oder politischem Machtstreben handeln, tragen die Schuld an der Radikalisierung und Barbarei in der Geschichte der Menschheit. Unschuldige Zivilisten, die bei den Terroranschlägen vom 11. September 2001 in New York ums Leben kamen, dürfen in unseren Augen, ob sie muslimischer, jüdischer oder christlicher Herkunft waren, keinen Unterschied zu den unschuldigen Opfern eines Terroranschlags in einer Moschee in Christchurch, Neuseeland, aufweisen. Unsere Anteilnahme und Gebete für jüdische Opfer des Zweiten Weltkriegs sollten auf der gleichen Ebene stehen wie unsere Anteilnahme und Gebete für muslimische Opfer des Bosnienkriegs (1992-1995), des Massakers von Srebrenica und die Opfer der Sklaverei sowie der indigenen Völker während der Kolonialisierungszeit in der jüngeren Geschichte. All diese Grausamkeiten gehören dem gleichen Teufelkreis; gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit. Unser Glaube sollte konkrete Auswirkungen haben, die unmittelbar mit unserer Menschlichkeit vereinbar sind.

Angriffe auf Zivilisten sind seit Jahren in Israel und Palästina eine traurige Realität. Wenn wir objektiv über Zahlen sprechen, können wir klar erkennen und mit vollem Recht bestätigen, dass auf muslimischer Seite mehr zivile Opfer zu beklagen sind als auf jüdischer Seite. Dieses Mal haben wir eine andere Art der Realität. Die Zahl der zivilen Opfer in Gaza, die meistens aus Kindern und Frauen bestehen, sagt uns ganz klar und laut, dass wir unter Schmerzen einer neuen Tragödie der Menschheitsgeschichte erleiden müssen. Wir müssen mindestens friedlich unsere Stimme und Haltung gegenüber Angriffe auf Zivilbevölkerung erläutern. Wir als gläubige Muslimen, Christen, Juden und Buddhisten, die an friedliche und humanitäre Botschaft jeder religiösen Lehre fest galuben, sollen mehr als zuvor für den Frieden beten.  Insbesondere für unschuldige Kinder, ihre Familienangehörige und Zivilenopfer.

Schade, dass die Menschheit noch so viel Leiden ertragen muss, um endlich zu begreifen, dass wir Menschen fähig sind, das friedliche Zusammenleben trotzt unserer zahlreichen und unterschiedlichen Weltanschauungen realisieren zu können. Angriffe auf Zivilist*innen, unschuldige Kinder sind unakzeptabel und nicht zu entschuldigen, egal von welcher Seite dir kommen. Das humanitäre Völkerrecht muss in der Praxis für alle Seiten umgesetzt werden. Mein herzliches Beileid, Gedanken und aufrichtige Gebete sind bei allen(!) unschuldigen Opfern.

 

Bildnachweis: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Damage_in_Gaza_Strip_during_the_October_2023_-_13.jpg, Palestinians inspect the ruins of Aklouk Tower destroyed in Israeli airstrikes in Gaza City on October 8, 2023. Date 8 October 2023, 10:16:44. Source Own work. Author Wafa (Q2915969) in contract with a local company (APAimages).

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