Wahlmüdigkeit – oder die Geschichte vom ein Meter langen Wahlzettel

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Sonntag. Um sieben Uhr zweiunddreißig klingelt mein Handy. „Frau Lemm, wir warten hier auf Sie, kommen Sie noch?“ Ich springe aus dem Bett, habe verschlafen, es ist mir unsagbar peinlich, nicht pünktlich am Wahllokal gewesen zu sein. Stattdessen renne ich nun wie wild mit der Zahnbürste im Mund von der Dusche zum Schlafzimmer und zurück, mache nebenher einen Pott Kaffee für unterwegs fertig und ziehe mir etwas drüber. Um viertel nach acht renne ich ins Wahllokal, die ersten Wähler kommen mir bereits entgegen, meine Kollegen lächeln mich an und nehmen es mir zum Glück nicht ganz so übel, wie befürchtet. „So etwas passiert, schön, dass Sie trotzdem gekommen sind.“

Ich bin Wahlhelfer. Freiwillig. Ohne, bei der Stadt angestellt zu sein und dafür einen Tag frei zu bekommen. Es ist ein Ehrenamt, es ist eine beschissene Arbeit. Warum ich das dann mache, werde ich oft gefragt. Weil ich an die Demokratie glaube, ganz einfach. Und weil es alle paar Jahre ein Sonntag ist.
Ich mache den Vormittag bis vierzehn Uhr. Zu viert sitzen wir hinter den Tischen, schnell ist man beim Du und es gibt Kaffee in rauen Mengen. Zunächst tröpfchenweise, später in kleinen Grüppchen kommen die Wähler in den zum Wahllokal umfunktionierten Kindergarten. Meine Aufgabe ist es, die Wahlzettel auszuhändigen und Fragen der Wähler zu beantworten.
Diese reichen von „Warum kann ich für die Stadt wählen, aber nicht für die Europawahl?“ bis hin zu „Welche Partei würden Sie denn wählen?“, wobei ich letzteres ja nicht beantworten oder beurteilen darf. Ich gebe mehreren Personen den freundlichen Hinweis, dass ein ungültiger Wahlzettel gewertet wird, als wäre man nicht zur Wahl gegangen, da viele noch immer dem Irrglauben aufgesessen sind, dass diese ungültige Stimme ebenfalls in den Topf mit einfließt und es ja besser sei, ungültig zu wählen, als gar nicht hinzugehen.

Kurz nach der Kirche kommt eine ältere Dame am Stock in das Wahllokal. Sie ist nicht gut zu Fuß, muss sich erstmal setzen. Ich reiche ihr die drei Wahlzettel und bekomme, wie so oft an dem Tag zu hören „Mein Gott, das sind ja viel zu viele…“. Sie schaut sich den Zettel zur Europawahl genauer an. Als sie ihn ausklappt, ist er beinahe so lang wie ihr Gehstock. Ich begleite sie in die Kabine und erkläre ihr, welcher Wahlzettel für welche Wahl ist. Sie scheint nicht viele Menschen zum Reden zu haben und verwickelt mich lange in ein Gespräch. Wenn das Wahllokal gerade nicht so voll wäre, würde ich mich länger mit ihr unterhalten, aber es ist keine Zeit. Alle drei Kabinen sind belegt, die Wähler stehen schon an, ihre Wahlzettel in der Hand und warten auf freie Plätze. Meine Kollegen haben alle Hände voll zu tun, kurz wird überlegt, die Wähler kurzzeitig vor den Türen warten zu lassen, da der enge Raum nun kaum mehr Menschen fasst. „Hohe Wahlbeteiligung, toll!“ denken alle. Es ist elf Uhr, das Wetter passt, die Kirche ist längst aus, das kann kein zufälliger Ansturm sein.
Bis zu diesem Zeitpunkt gibt es genau zwei Wähler, die an der Integrationswahl teilgenommen haben, ein holländisches Ehepaar. Alle anderen 187 auf der gelben Liste sind bislang nicht gekommen. Am Ende des Tages werden es ganze 13 Integrationsrats-Wähler sein.

Bis 14 Uhr habe ich das Gefühl, dass viele Menschen zur Wahl gehen. Ich verabschiede mich bis halb fünf und mache erstmal Pause. Die Zeit wird genutzt um etwas zu essen, einen Spaziergang zu machen und das schöne Wetter zu genießen. Als ich am späten Nachmittag in das Wahllokal zurückkomme, herrscht gähnende Leere. Auch am restlichen Nachmittag ist nicht mehr viel vom anfänglichen Ansturm zu spüren. Am Ende werden wir in unserem Wahlbezirk von möglichen 8.221 Europawahl-Wahlberechtigten nur 3.395 Wähler zählen können, davon etliche per Briefwahl.
Ich bin erstaunt. Es schien zunächst so, dass viele ihrem Stimmrecht, welches ein wundervolles Privileg ist, nachkommen würden. Am Ende des Tages wird klar, dass man für nicht einmal 48% der Bürger der Stadt den ganzen Tag dort gesessen hat und während alle anderen schon die ersten Prognosen im Fernsehen verfolgen ist man selbst dabei und zählt die abgegebenen Stimmzettel, trennt die gültigen von den ungültigen. Immerhin sind dies in unserem Wahlkreis 41 ungültige Stimmen, also 1,2 % der gesamten hier abgegebenen Stimmen.

Ich bin frustriert. Nicht, weil die Leute etwas anderes als ich gewählt haben, sondern weil es an der Zahl so wenige waren. Etliche Namen auf der Liste blieben ohne Haken dahinter, auch viele, die ich persönlich kenne. Ich frage mich, warum gehen so viele Leute nicht wählen. Die Antworten auf diese Fragen sind vielfältig und reichen von „Wen soll ich denn da wählen, die sind doch alle bescheuert“ bis hin zu „Das ist doch alles eh nur Betrug und Lobbyismus“. Gern genommen wird auch die Ausrede „Die machen doch eh nichts für den kleinen Mann da oben!“ Ich kann keine dieser Aussagen bestätigen oder verneinen. Alles was ich weiß, ist dass ich es „da oben“ nicht besser könnte. Klar habe ich eine Meinung zu allem, aber ob die dann auch alle Elemente berücksichtigt, die eine Entscheidung beeinflusst? Nein. Man muss ja nicht alles gut finden, was die Politik dem normalen Bürger serviert, aber deswegen von seinem Wahlrecht keinen Gebrauch zu machen, ist keine Form von Protest gegen die Obrigkeit sondern vielmehr ein Armutszeugnis gegenüber dem mühsam erkämpften Privileg, in einer demokratisch ausgerichteten Gesellschaft leben zu dürfen. Ein Privileg bedeutet, dass man ein „Vorrecht“ hat, im Juristischen heißt es aber auch, dass dieses verbunden sein kann an Auflagen. Die Auflage des Privilegs „Wählen dürfen“ liegt ganz klar bei „wenn man es darf, sollte man das auch tun“. Vielleicht müssen die Nicht-Wähler erst einmal ohne das Recht auf Mitbestimmung leben, damit sie das realisieren. Ich hoffe, ich erlebe diesen Tag nicht mehr.

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About Author

Ich bin gebürtige Essenerin und lebe auch in Essen, 29 Jahre alt, Projektleiterin in einer Essener Werbeagentur. Kind eines Steigers und Spross einer über Generationen im Bergbau beschäftigten Familie - und darauf extrem stolz. Privat leidenschaftliche Stadiongängerin auf Schalke und durch und durch Fußball-verrückt. Jobbedingt interessiert an Marketing und Internet - alles rund ums Netz ist meine Welt. Und: ich liebe meine Heimat - weil es hier einfach schöner ist als woanders.

3 Kommentare

  1. Kannst bzw. darfst du etwas dazu sagen, welcher Natur die ungültigen Wahlscheine waren? Das würde mich wirklich mal interessieren. Was schreiben die Leute drauf? Streichen sie einfach alles durch, kreuzen sie alles an?

  2. Anika Lemm on

    Hallo Olsen,
    die ungültigen Stimmzettel waren teilweise gar nicht ausgefüllt, teilweise mehrfache Kreuze, oder auch durch gestrichen. Wir haben ja einen kleinen Spielraum, was das Bewerten des Stimmzettels angeht. Aber bei einigen kann man erkennen, dass sie absichtlich ungültig sein sollen. Ich hatte auch schon den Fall, dass jemand auf den Zettel geschrieben hat, dass er mit der Politik nicht zufrieden ist. Aber bei der letzten Wahl waren es nur “einfache” ungültige Stimmen.

  3. In Duisburg habe ich als Wahlhelfer immer Ähnliches erlebt. DIe Wahlbeteiligung ist traurig, und viele Leute kommen rein und schimpfen, was das Zeug hält. Ungültige Stimmen haben wir auch immer viele, teilweise sehr kreative. Schade, dass ich das Polit-Gedicht nicht mehr weiß 😉

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