Montag, 09.06.2014
Es muss schon etwas Heftiges passiert sein, wenn jemand in meiner Küche auf dem Boden seinen Gebetsteppich ausrollt und Gott dafür dankt noch am Leben zu sein. Ich kenne nicht einmal den Namen dieses Mannes, der mit seiner erwachsenen Tochter am Abend des Sturms bei mir in der Wohnung Zuflucht suchte. Ihr Auto war direkt vor unserer Tür von einem auseinander gebrochenen Baum gestoppt worden, und die beiden schellten bei mir und meinen Nachbarn Sturm, aus Angst um ihr Leben.
Kurz zuvor war ich noch bei meiner Nachbarin nebenan, um zu schauen, ob es ihr gut ging – die Dame ist 86 und ihr stand der Schrecken ins Gesicht geschrieben, als sie mir die Tür öffnete. Vor nicht einmal 5 Minuten war im Hinterhof bei den Nachbarn ein ganzer Baum umgestürzt und hatte sich mit einem unglaublichen Krach in das gegenüber liegende Haus gebettet. Ich konnte aus meiner Balkontür nicht einmal mehr die Balustrade meines Balkons sehen, so sehr fegte der Wind Trümmer, Blätter und sonstiges Zeug an unserem Haus vorbei. Per WhatsApp hielt ich seit 21 Uhr fast ununterbrochen Kontakt zu meiner Familie, ich hatte Angst. Das Licht flackerte zwischendurch und der Sturm toste lautstark am Haus vorbei. Dieses Unwetter war das schlimmste, das ich in meinem Leben bisher erlebt habe. Und dann schellte es Sturm im Haus. Ich rannte runter und als ich die Tür öffnete, standen ein Mann und eine junge Frau patschnass und voller Angst in der Tür: „Bitte, keiner macht uns auf, wir haben Angst, dürfen wir rein kommen?“ Ohne lange zu zögern zog ich die beiden aus dem Regen in den Hausflur und wir gingen in die Wohnung. Meine Nachbarin steckte den Kopf nochmal aus der Tür: „Ist alles in Ordnung?“ Ich nickte. Nach einer notdürftigen Versorgung mit Handtüchern, trockenen Kleidern und Tee erzählten mir die beiden, dass sie beim Nachbarn vom Haus nebenan mit der Polizei bedroht wurden, wenn sie nicht verschwinden würden und aufhörten um Einlass zu bitten. Sie hatten danach Unterschlupf unter einem Bushaltestellenhäuschen gesucht, aber bei dem Sturm hatte es nicht geholfen – und dann kam noch ein Baum von der anderen Straßenseite, da rannten sie los.
Wir saßen schließlich bei Tee im Wohnzimmer, langsam beruhigten sich die beiden wieder, die Tochter erzählte mir, dass sie auf dem Weg von Bottrop nach Kray waren und morgen in eine Herzklinik nach Bad Oeynhausen mussten. Sie sei herzkrank und ihr Vater war extra mit ihr aus der Türkei nach Deutschland gekommen um ihr eine bessere ärztliche Behandlung zu ermöglichen. In dem Moment wurde mir klar, dass die beiden nicht umsonst solche Angst hatten und dass ihre Dankbarkeit nicht übertrieben war. Das da draußen war aus mehreren Gründen lebensgefährlich für die zwei. Der Vater telefonierte unentwegt um seinen Bekannten Bescheid zu geben, dass es ihnen gut ging. Immer wieder griff er zu seinem Handy und rief andere Menschen an. Als das Unwetter etwas abflaute, ging ich mit ihm runter zur Straße und wir schauten, ob sein Auto es noch machen würde. Schnell war klar, dass es keinen größeren Schaden genommen hatte, Glück im Unglück. Unsere Straße aber sah aus wie nach dem Krieg. Nachbarn kamen nach und nach aus ihren Häusern, staunten über die umgestürzten Bäume, erschraken beim Anblick unserer schönen Platanenallee. Kein Baum war mehr so, wie noch vor 2 Stunden, viele waren halbiert, einige hatte der Sturm ganz weggerissen und sie waren auf Autos gestürzt.
Ein Nachbar von nebenan sprach mit meinem Hausgast, sie unterhielten sich auf Türkisch, und obwohl ich nichts verstehen konnte, wusste ich, dass sie über das redeten, was gerade passiert war. Ich half schließlich dem Vater die Taschen und Koffer aus dem Auto erstmal in meine Wohnung zu tragen, denn es wurde schnell klar, dass die beiden im schlimmsten Fall eine Nacht in unserer Straße verbringen mussten. Nur bei mir ging es nicht – ich baue gerade um, meine Wohnung gleicht einer einzigen Baustelle mit Schutt, Zementsäcken und Werkzeugkisten. Dank dem Nachbarn fand sich aber bald eine Möglichkeit ein paar Häuser weiter und wir brachten die Sachen schließlich zu einer leerstehenden Wohnung, in die zwei Matratzen gelegt worden waren. Vorher tauschte ich mit Esra, der Tochter, noch schnell Telefonnummern aus und wünschte alles Gute.
Im Laufe der Nacht machten wir mit einigen Leuten die Straße so weit es ging vom schlimmsten frei, so dass eine Rettungsgasse für Krankenwagen geschaffen wurde. Ich lernte viele meiner Nachbarn mitten in der Nacht kennen, die ich sonst nie gesehen hatte, viele packten mit an, einige liefen durch die Straße und starrten nach oben in die Baumkronen, die noch übrig geblieben waren. Was wir alle noch nicht wussten war, dass unsere Siedlung von allen Seiten durch umgestürzte Bäume nicht zugänglich war, es hätte weder Feuerwehr noch Krankenwagen kommen können.
Um 2 Uhr lag ich endlich im Bett, war aber noch so aufgedreht, dass ich nicht schlafen konnte. Plötzlich ging das Telefon, meine Nachbarin von nebenan war vollkommen aufgelöst und berichtete mir, dass sie Wasser im Schlafzimmer hat, die Tapeten kämen schon runter. Ich versuchte sie zu beruhigen, sagte ihr, sie solle trotzdem versuchen zu schlafen, morgen würden wir unseren Vermieter anrufen. „Das hab ich vorhin schon gemacht, der kommt morgen früh direkt zu uns“, sagte sie und ich dachte mir nur, dass ich gerade froh bin, zur Miete zu wohnen und nicht selbst zu vermieten.
Dienstag, 10.06.2014
Morgens um sechs klatschte der Hagel an meine Fenster. Ich zog mich direkt an, sah aus dem Fenster und erschrak. Bei Tageslicht wurde es erst richtig deutlich, was hier letzte Nacht gewütet hatte. Ich verließ das Haus. Kein Baum war heil geblieben, überall lagen Grünzeug, Äste und Bäume auf den Bürgersteigen und Straßen und an vielen Stellen waren die Wege blockiert, weder für Fußgänger geschweige denn für Autos passierbar. Vereinzelt versuchten Autofahrer an einigen Bäumen vorbei zu fahren und waren irritiert, als ich ihnen durch ihr Autofenster sagte, dass sie weiter oben nicht mehr fahren konnten, da Bäume die Wege komplett versperrten. Sie drehten um und suchten nach anderen Wegen um zur Arbeit zu kommen. Ich hatte derweil auf der Arbeit angerufen und Bescheid gegeben, dass ich hier nicht weg konnte – es hatte unser Dach erwischt und vor dem Haus sah es aus wie nach einem Tornado, wir mussten hier erst einmal alles wieder richten, da noch weitere Stürme angesagt waren. Um neun Uhr rückte die Feuerwehr an und zersägte den großen Baum direkt vor unserer Tür, der meinen nächtlichen Hausgästen diesen riesen Schrecken eingejagt hatte. Nach einer halben Stunde war wenigstens wieder eine Spur frei, die Feuerwehr, die seit Stunden auf den Beinen war, rückte weiter und die Autos schlängelten sich an der engen Stelle an Fußgängern vorbei um vor dem nächsten Baum zu scheitern.
Mein Vermieter kam um zehn. Er war fassungslos, sagte, sowas habe er noch nicht gesehen. Schnell ein paar Fotos für die Versicherung gemacht und dann fing er auf dem Dach an zu arbeiten. Ein Nachbar vom Haus nebenan und ich räumten derweil den Gehweg so gut es ging. Mit Schneeschaufeln schoben wir das Geäst vor uns her und befreiten damit einen Teil des Bürgersteigs vom gröbsten. Auf der anderen Straßenseite türmten sich die Äste, aber dort ging nie jemand lang, daher ließen wir den Bereich unberührt. Nach zwei Stunden war das erst einmal erledigt. Ich traf noch den netten Nachbarn vom anderen Haus und fragte, wie es Esra und ihrem Vater ergangen ist. Sie hatten die Nacht gut überstanden und konnten spät am Morgen ihre Fahrt nach Bad Oeynhausen fortsetzen. Ein Glück. Leider hatte ich wohl eine falsche Nummer gespeichert, ich konnte sie nicht erreichen um ihr selbst noch mal alles Gute zu wünschen.
Mittwoch, 11.06.2014
Am nächsten Tag rief die Arbeit wieder – vieles war liegen geblieben, außer mir waren viele andere tags zuvor ebenfalls nicht gekommen. Gott sei Dank arbeite ich in einer Firma, in der man Verständnis für solche Ausnahmezustände hat. Über den Tag hinweg wurde ich auf eine Facebook-Gruppe aufmerksam, „Essen packt an“. Genial, dachte ich. In der Gruppe, die stündlich um mehrere Hundert Mitglieder wächst werden Freiwillige mit und ohne Ausrüstung zusammengetrommelt, um an Straßen unserer Stadt für Ordnung zu sorgen. Solche Leute brauchten wir auch bei uns. Noch morgens hatte ich beobachtet, wie sich gleichzeitig Autos und Fußgänger versuchten in unserer Straße an den umgefallenen Bäumen vorbei zu schlängeln, mit Kinderwagen, Rollatoren oder Einkaufstaschen.
Im Laufe des Tages posteten in der Gruppe immer mehr Freiwillige mögliche Einsatzorte, wer was mitbringen kann und was wo gebraucht wird. Das Radio und verschiedene Fernsehsender waren aufmerksam geworden. Immer mehr Fotos von bereinigten Gegenden wurden hochgeladen, aber es kamen immer noch viele andere Fotos, auf denen man noch vollkommen zerstörte und unpassierbare Ecken sah.
Direkt nach der Arbeit traf ich zwei mir vollkommen fremde Frauen und fegte mit ihnen unter anderem den Wendehammer der EVAG am Karlsplatz, so dass die Busse dort wieder wenden konnten. Das DRK hatte dort die von der Feuerwehr notdürftig abgelegten Bäume bereits an die Seite in die Grünanlage geschafft, nun mussten nur noch Äste und Grünzeug aus dem Weg gekehrt werden. Ein netter Busfahrer spendierte meinen beiden Helferinnen und mir gekühlte Getränke, eine weitere Helferin versorgte uns kurzerhand mit Gummibärchen und ebenfalls mit Getränken. Zeitgleich versuchte ich, Freiwillige für unsere Straße zu organisieren, auf der sich seit gestern nichts getan hatte. Mit Erfolg. Ein ganzer Trupp mit Kettensägen, Arbeitshandschuhen und viel Motivation kam um kurz vor 21 Uhr in mehreren Autos vorgefahren und machte sich mit mir ans Werk. Ich war so dankbar endlich Hilfe zu haben. Sie waren schon seit Stunden unterwegs und hatten schon in mehreren Stadtteilen die Straßen und Fußwege wieder passierbar gemacht. Und alle kannten sich vor diesem Tag nicht – sie wollten einfach nur helfen. Als die Kettensägen losgingen und wir mit der Arbeit begannen, schaute meine 86-Jährige Nachbarin aus ihrem Fenster und staunte. Man konnte ihr auch auf die Entfernung ansehen, dass sie berührt war über diese Hilfsbereitschaft. Viele der anderen Nachbarn hingen auch an den Fenstern und schauten zu, wie wir den Baum vor unserer Tür kurzerhand zerlegten und an der Seite stapelten. Einige kamen raus um mit anzupacken, um uns mit Essen und Trinken zu versorgen. Die Bushaltestelle war nach einer halben Stunde wieder freigelegt. In unserem Vorgarten stapelt sich nun zwar unendlich viel Grünzeug, aber wen interessiert das, der Bürgersteig ist wieder frei und die Autos haben wieder jeweils eine Fahrbahn für jede Richtung, das Gefahrenrisiko ist minimiert. Je weiter wir in der Straße vorgerückt waren, desto mehr Helfer waren wir, am Ende waren wir bestimmt an die zwanzig Mann. Innerhalb von zweieinhalb Stunden konnte man wieder gefahrlos durch die Straße fahren und zu Fuß gehen. Ich war einfach nur baff. Ich bin es immer noch. Dass diese Menschen so selbstlos durch das Stadtgebiet fahren und uns helfen ist einfach nur fantastisch. Die Gruppe löste sich auf, es wurde ja auch schon dunkel, ich fuhr eine der Helferinnen nach Dellwig, als kleines Danke für die Anstrengung. Um zwölf war ich im Bett.
Einfach nur DANKE.
So schlimm dieses Unwetter auch war, mit so viel Zerstörungskraft und derart vielen angerichteten Schäden, die im ganzen Stadtgebiet und noch darüber hinaus nach wie vor zu sehen sind und wohl noch eine ganze Weile den Alltag hier in Essen begleiten werden, habe ich ein gutes Gefühl beibehalten. Meine Stadt packt an. Wenn es hart auf hart kommt, sind hier Menschen, die etwas tun, die helfen wollen. Neben der Feuerwehr, dem THW, dem DRK und allen anderen berufsbedingten Helfern gibt es tausende Freiwillige, die ihre Stadt wieder aufräumen.
Einige Baumärkte der Stadt haben Geräte, Handschuhe und Werkzeuge zur Verfügung gestellt, die Brauerei Stauder spendiert Getränke genau wie etliche Getränkemärkte und sogar unser Oberbürgermeister Paß möchte auf dem Laufenden gehalten werden, was sich in der Gruppe tut und wo es Probleme mit den Behörden gegeben hat, damit er selbst sich darum kümmern kann, dass die Helfer unterstützt statt gestoppt werden.
Mit Sicherheit gibt es genügend Personen, die nichts besseres zu tun haben, als ihre Türen und Fenster zu verschließen oder zu schimpfen, dass man abends um zehn noch solchen Krach macht oder dass man die Äste, die man soeben mühsam klein gesägt hat nun auf einem Parkplatz vor dem Haus stapelt, weil dieser damit ja nicht mehr zur Verfügung steht. Aber der Einsatz der Leute, die dieser Tage in unserer Stadt unterwegs sind ist einfach nur großartig. Jeder, der an einem solchen freiwilligen oder berufsbedingten Trupp vorbeifährt, sollte am nächsten Supermarkt halten, einen Sixpack Wasser besorgen oder eine Tüte Brötchen und den Jungs und Mädels vorbeibringen. Und jeder Bürger unserer Stadt sollte diesen Menschen danke sagen.
Meine 86-Jährige Nachbarin hat mich heute Morgen im Flur angehalten. Sie machte sich gerade auf den Weg zum Einkaufen, denn endlich konnte sie ja wieder gefahrlos durch unsere Straße laufen. Sie freute sich wahnsinnig, als sie draußen sah, dass der ganze Weg frei war. Als ich gerade zu meinem Auto lief, rief sie mir hinterher: „Bitte richten Sie den jungen Leuten von gestern aus, dass die eine Wucht sind und dass wir alle hier dankbar sind.“ Mach ich.
Ein Kommentar
Ein wirklich schöner Artikel! Es ist einfach schön zu hören und zu sehen, dass wenn man an das Jahr 2014 als Ruhrpottler denkt man nicht an den Sturm oder an die WM oder an irgendetwas anderes denkt als an diesen uneigennützigen Helfern. Ich weiß, der Post ist noch im Juli veröffentlicht worden, aber auch jetzt kursieren links auf FB.
Ich hatte auch die Ehre (anders kann man es wirklich nicht sagen) zwei, drei mal mit anzupacken. Es war einfach faszinierend! Aus allen Schichten, aus allen Ecken, von überall her kamen Leute um zu helfen. Und mein persönliches Highlight war es, als wir eine Straße aufgeräumt hatten. Es gab da tatsächlich Menschen die noch genörgelt hatten, aber es kamen auch Menschen raus um zu helfen. Sie namen einen Besen und halfen mit. Auf einmal kam eine Familie und die jüngste Tochter gab uns Eis und Saft. Ihr Opa war gerührt und dankte uns allen persönlich für diese Hilfsbereitschaft. Ich muss schon gestehen, da sind mir fast schon die Tränen gekommen.
Auch von mir ein riesiges Dankeschön an allen Leuten von Essen packt an die entweder selbst mit angepackt hatten oder ihnen halfen durch Spenden. Euch allen ein gesundes und erfolgreiches Neues Jahr.
Ach und bevor ihr denkt EPA (Essen packt an) wäre jetzt vorbei, der sollte mal lieber diese Links verfolgen: https://www.facebook.com/Essenpacktan?fref=ts und https://www.facebook.com/warmdurchdienacht?fref=ts