Der Mann am Bahnhof

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Es ist dunkel. Mehrere Leute, nicht viele, stehen zu dieser späten Stunde auf dem Gleis am Essener Hauptbahnhof und warten auf den Zug, der sie von hier fortbringt. Nach Hause, zu Freunden, hinaus aus dieser Stadt, einfach fort.

Es sind überwiegend junge Leute, die an diesem Abend noch unterwegs sind, manche mit einem Becher Kaffee in der Hand, andere mit etwas zu essen. Ich habe einen Burger und gehe langsam auf und ab, während ich ihn verschlinge. Mit Kopfhörern in den Ohren beobachte ich die Menschen um mich herum. Ich habe das schon immer getan.
An einem bleibt mein Blick haften. Untermalt durch die Klänge von Darren Hayes´ Darkness, sehe ich mir diesen Mann genauer an. Er ist sehr viel älter als die Umstehenden; vielleicht sechzig oder gar siebzig Jahre alt. Auch seine Kleidung passt überhaupt nicht in die Umgebung dieser Nacht. Er trägt einen langen, fabelhaft neu aussehenden dunklen Cashmère-Mantel, dazu einen Hut. Klassische Erscheinung. Der Mann raucht gemächlich eine Zigarette im Raucherbereich auf Gleis 9, und seine kerzengerade, fast stolz anmutende Haltung verrät seine Herkunft aus besseren Kreisen.
Ich beginne, mir Gedanken über diesen Mann zu machen. Was tut er wohl? Er passt so gar nicht hierher. Ich beobachte, wie er gemessenen Schrittes zum Aschenbecher geht und seine Zigarette behutsam ausdrückt. In meinem Rucksack krame ich nach einer eigenen und habe ihn nicht mehr im Blick.
Ich sehe ihn erst wieder, als er direkt vor mir steht; seine Lippen bewegen sich beim Sprechen. Mit einem Knopfdruck bringe ich Darren Hayes zum Schweigen und wende mich dem alten Mann zu.
„Bitte?“
„Das ist eine interessante Tasche, die Sie da haben“, sagt er. „Darf ich sie mir einmal näher ansehen?“
Verwunderung ist ein mildes Wort für das Gefühl, das mich durchrinnt. Nickend nehme ich den Armyrucksack von der Schulter und halte ihn dem Mann hin. Er studiert die vielen Buttons und Aufnäher und sieht sich die Aufschriften an, die ich selbst gemacht habe.
„It takes a fool to remain sane“, liest er, flüssig und ohne jeglichen deutschen Akzent. „Das könnte man so sagen. Sind Sie auf allen Konzerten dieser Bands gewesen?“
Ich bejahe, noch immer höchst erstaunt darüber, dass dieser so vornehm wirkende Mann jemanden wie mich anspricht; einen kleinen Kerl in Ledermantel und schwarzen Klamotten, die bestenfalls als „Vintage“ durchgehen. Wir vertreten beide offensichtlich unsere Welt mit Hilfe unserer Kleidung, der äußeren Erscheinung. Tut das nicht jeder? Flüchtig kommt mir der Gedanke, dass der Mann, der sich nun mir zuwendet, vielleicht einmal Botschafter gewesen ist, oder Politiker. Seine geschliffene, ausdrucksstarke Art zu sprechen ist sehr angenehm, wie der ganze Mensch sehr angenehm auf mich wirkt.
Wir unterhalten uns kurz über Musik, Musikgeschichte, es ist so einfach, mit ihm zu sprechen, obwohl er ein Fremder für mich ist. Er ist unglaublich fix im Denken und drückt sich äußerst gewählt, aber nicht geschwollen aus. Ich bin fasziniert. Im Hinterkopf muss ich mir ein Vorurteil eingestehen, das dieser Mann gerade im Begriff ist, aufzulösen. Wir sprechen über die Jugend und ihr Bedürfnis, sich einer Gruppe anzuschließen, um ihre Identität nach außen hin zu präsentieren. Wir sprechen darüber, wie sich der Umgang mit der eigenen Persönlichkeit über die Jahrzehnte gewandelt hat. Der Mann hat viel erlebt und viel zu sagen, und ich, da ich noch so jung bin, höre ihm zu und profitiere von seiner Erfahrung.
Als der Zug kommt, der uns zu unseren Zielen führen soll, verabschiedet der Mann sich von mir.
„Es war nett, mit Ihnen zu sprechen“, sagt er, „ich wünsche Ihnen weiterhin alles Gute in Ihrem Leben.“
Das wünsche ich ihm auch, und wir steigen in den Zug und verlieren uns aus den Augen.
Ich muss zwei Stationen bis nach Duisburg fahren. Im Zug setze ich mich auf den nächsten freien Platz, der mir zusagt, sehe aus dem Fenster und denke über den Mann nach. Die Begegnung mit ihm hat mich berührt. Eine kurze Begegnung, wie zwei Blätter im Wind, jedoch werde ich seine Worte und seine Wirkung auf mich nie vergessen. Wie ich dort sitze und nach Hause fahre, frage ich mich erneut, was er wohl früher gemacht hat. Und wo er heute Abend noch hin will.
An der nächsten Haltestelle, Mülheim Hauptbahnhof, steigt er aus; ich sehe ihn durch das Fenster. Doch anstatt das Gleis zu verlassen, steht er einfach nur dort. Niemand kommt, um ihn abzuholen. Er sieht sich um, ruhig, gelassen, er wartet. Wartet auf den nächsten Zug, der ihn in eine andere Stadt bringt, in ein anderes Gespräch, für ein paar Minuten in eine andere Welt.

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