“Erst durch Verständnis können wir Verständigung bewirken” – Im Interview mit Prof. Dr. Gaby Herchert

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Interview mit Prof. Dr. Gaby Herchert über Interkulturalität und deutsch-türkische Literatur

Im Interview mit Prof. Dr. Herchert von der Universität Duisburg-Essen erhielten wir wichtige Einblicke in verschiedene Aspekte der Interkulturalität in Deutschland. Wir sprachen über Normalitäten und Fremdheitsbilder im Laufe der Geschichte, über Verständigung und Missverständnisse, über Einwanderung und Islambilder sowie über ausgewählte Werke der deutsch-türkischen Literatur. Mit einem starken Gesellschaftsbezug tritt die Professorin für Mediävistik für eine gegenseitige Verständigung zwischen Kulturen ein. Erst über die Wahrnehmung des Anderen, und anschließend über das Verständnis für das Andere könne man Verständigung bewirken. Nachfolgend veröffentlichen wir eine Zusammenfassung unseres mehrstündigen Gespräches. Der Volltext kann hier aufgerufen werden.

Abkürzungen

GH = Prof. Dr. Gaby Herchert

RB = Ruhrblogger (Volkan Demirel, Serdar Ablak, Abdullah Esen)

Prof. Dr. Gaby Herchert stellt sich vor

RB:     Sehr geehrte Frau Herchert, vielen Dank, dass Sie uns heute zum Interview eingeladen haben. Können Sie sich und Ihre Arbeitsschwerpunkte für unsere Leser kurz vorstellen?

GH:    Ich arbeite in der germanistischen Mediävistik, d.h. mein Schwerpunkt ist alles, was mit mittelalterlicher Literatur und mittelalterlicher Kultur zusammenhängt. Schwerpunkt dabei sind Fremdheitsbilder und das Bild des Islam im Mittelalter. Früher hatte ich sehr viel mit Interkulturalität zu tun und habe sehr lange im Bereich Deutsch als Fremdsprache, in Integrationskursen und bei der Organisation von DSH-Kursen gearbeitet. Das heißt, ich habe schon immer sehr viel mit unterschiedlichen Kulturen zu tun gehabt und habe lange Zeit in Duisburg eine internationale Sommeruniversität organisiert (Teilnehmer aus 19 Nationen). Aus diesen Erfahrungen habe ich dann natürlich den Punkt der Interkulturalität mit in die Mediävistik hineingenommen. Auch das Mittelalter ist schon immer ein Stück weit interkulturell, denn das Mittelalter ist das, was uns einerseits fremd und andererseits sehr vertraut ist.

Interkulturelle Forschung

RB:     Genau über die Interkulturalität möchten wir heute sprechen, dabei insbesondere über die interkulturelle und die deutsch-türkische Literatur. Wie würden Sie den Stellenwert der interkulturellen Literaturforschung beschreiben?

GH:    Ich halte dies zunächst für einen sehr ergiebigen Forschungsbereich, aber es ist natürlich zu überlegen, ob es sinnvoll ist, wenn man interkulturelle Literatur als einen eigenen Bereich ausweist. Es gibt Schwierigkeiten, die Grenzen auszuloten, da unzählige Gattungen und Formen mit interkulturellen Zügen vorhanden sind. Ich würde die interkulturelle Literatur nicht als eigenen Bereich abgrenzen. Interkulturalität ist zudem keine Neuerscheinung; lediglich der Begriff ist relativ neu. Schon in mittelalterlichen Texten erkennen wir das Interkulturelle. Pilgerberichte beispielsweise weisen ganz viele interkulturelle Aspekte auf. Die interkulturellen Aspekte sind also schon immer in der Literatur mit einbegriffen.

 

Interkulturalität – Eine Definition

RB:     Interkulturalität ist für Yousefi (2001) „der Name einer Theorie und Praxis, die sich mit dem historischen und gegenwärtigen Verhältnis aller Kulturen und der Menschen als ihrer Träger auf der Grundlage ihrer völligen Gleichwertigkeit beschäftigt.“ (Yousefi / Braun 2001, S. 29). Können Sie diese Definition kurz erläutern?

GH:    Zunächst steckt in dieser Definition die Annahme, dass es kulturelle Differenzen gibt. Nicht alle Theorien gehen von Differenzen aus. Es gibt kulturelle Differenzen und diese bedingen jeweils unterschiedliche Normalitäten. Das heißt aber zugleich auch, dass jeder von uns kulturell geprägt ist. Unsere Vorstellungen von der Welt, von Werten, oder unseren Normen, unsere Denkmuster und Handlungsmuster sind so wie sie sind, weil wir mit anderen Menschen zusammen ein kulturelles Gedächtnis teilen. Jede Gruppe und Gesellschaft hat eine Vorstellung von Normalität. Aber andere Gruppen von Menschen haben andere Vorstellungen, weil sie mit eigenen Weltentwürfen und Normalitäten aufwachsen. Wenn uns aber erst einmal bewusst wird, dass unsere Normalität nur eine von vielen ist, und dass sie nicht höhere Geltung hat als die Vorstellung anderer, dann ist das die Basis, auf der man die kulturelle Prägung (die eigene und die der anderen) verstehen lernen kann. Diese Verständigung ist ein Prozess, der notwendig ist.

Deutschland als interkulturelles Einwanderungsland

RB:     Können Sie zu der interkulturellen Geschichte Deutschlands Näheres sagen?

GH:    Es hat schon immer in ganz Europa Wanderbewegungen gegeben: Zuwanderungen durch Kriege, Religionsflüchtlinge, angeworbene Siedler und Arbeitsmigranten. Es ist ein Mythos des 19. Jh., dass man sagen kann, die Deutschen sind die Nachfahren der Germanen. Diese Vorstellung ist im Zuge des Nationalismus im 19. Jh. überhaupt erst gesetzt worden. Auch türkische Arbeitsmigranten gibt es schon sehr lange in Deutschland. Zum Beispiel hat der Preußenkönig Wilhelm I. im Jahr 1713 in Potsdam einen Saal für 20 in seinem Dienst stehende türkische Soldaten zu einer Moschee umbauen lassen. 1731 wurde dann eine neue Moschee als eigenes Gebäude für die türkischen Bediensteten des Palastes errichtet.

RB:     Besonders ab den 60er Jahren kamen mit der Arbeiteranwerbung dann Menschenmengen nach Deutschland. Dies ist das Bild, was uns heute so präsent ist.

GH:    Ja, es waren Menschenmengen. Man kann aber auch sagen, dass die 60er Jahre die Zeit war, in der man dem Gastarbeiter mit einer arroganten Sklavenhaltermentalität gegenüber getreten ist. Man hatte die Vorstellung, dass die Gastarbeiter kommen, dass sie zügeweise nach Deutschland gebracht und irgendwo kaserniert werden, dass sie hier eine Fabrik aufbauen und arbeiten, und dass sie anschließend wieder alle weggehen. Gleichzeitig hat man trotzig darauf beharrt: „Deutschland ist kein Einwanderungsland!“

Frühe deutsch-türkische Literatur (1970er / 1980er)

RB:     Die Literatur ist auch immer Spiegelbild der Gesellschaft. Welche gesellschaftlichen Umstände werden durch die früheren deutsch-türkischen Werke reflektiert?

GH:    Die Literatur der 1960er und 1970er Jahre ist vor allem autobiographische Betroffenheitsliteratur. Es handelt sich dabei um einfach geschriebene Gedichte oder Geschichten, in denen eigenes Erleben erzählt wird. Themen hierbei sind enttäuschte Erwartungen, zerbrochene Träume, gescheiterte Lebensentwürfe, Anklage, oder aber auch die Auseinandersetzung mit den Deutschen, d.h. die Ablehnung und die Kälte der Deutschen. Die deutsch-türkische Literatur erhielt erst einen Schub mit Autoren wie Kemal Kurt, Aras Ören, Fakir Baykurt oder Ihsan Atacan. Diese haben ein Forum der Literatur gebildet, wo dann auch komplexe und differenzierte Bilder entworfen wurden. Es gab Verflechtungen, Verstrickungen; kulturelle Differenzen wurden thematisiert. Zu dieser Zeit entstand die türkische Satire mit Sinasi Dikmen oder Osman Engin. Die neuen Thematiken ab den 1980er Jahren waren dann verstärkt Entwurzelung, Heimatlosigkeit und „Zwischen Zwei Kulturen“.

RB:     Textbeispiel

Was will Niyazi in der Naunynstraße? (1973)

Wo sind die Falken geblieben? Weit weg sind die

Taurusberge. Wenn du die sonnigen Hänge hinuntersteigst,

kommst du ans Meer, gegen den Horizont blähn sich

die Segel der Schwammfischer.

Über die Chaussee nach Anamur fließen die Diesellaster,

der ölige Asphalt schmilzt in der Hitze.

Hören wir hier eine Schwärmerei für die idealisierte Heimat?

GH:    Ja, das würde ich so sehen. Hier wird das Sehnsuchtsland Türkei vorgestellt. Von der Türkei aus gesehen ist zwar Deutschland das Sehnsuchtsland. (Konsum, Geld, Warenhäuser). Andersherum wird die Türkei zum Sehnsuchtsort (Sonne, Meer, Dauerparty). Alles wird wunderbar imaginiert. Aber diese Vorstellungen sind das Produkt der Sehnsucht. Die Realität sieht immer anders aus.

RB:     Zum Stichwort der Anklage passt das Beispiel von Yüksel Pazarkaya (1989) (erste und letzte Strophe):

 

uns sagen sie (1989)

ihr seid anders als wir sagen sie uns

wir sind anders

ihr seid schlechter als wir sagen sie uns

wir sind schlechter

ihr seid rückständiger als wir sagen sie uns

wir sind rückständiger

ihr seid schmutziger als wir sagen sie uns

wir sind schmutziger

[…]

ihr einmaligen

ihr guten

ihr fortschrittlichen

ihr sauberen

westeuropäischen hochrassigen deutschen

 

GH:    Das war die Art und Weise, mit der man ihnen begegnet ist (Verweis Heidelberger Manifest). Was hier in Pazarkayas uns sagen sie über Rückständigkeit und Schmutz steht, sind genau die Vorurteile, mit denen man den eingewanderten Leuten begegnet ist. Im Grunde ist diese Einstellung bis heute so geblieben, auch wenn es nun anders akzentuiert wird. Zudem verschiebt sie sich auf immer neue Einwanderergruppen, wie aktuell auf die rumänischen und bulgarischen Mitbürger. Gesellschaftliche Prozesse laufen nach bestimmten Mustern ab und sie wiederholen sich.

Spätere Phase der deutsch-türkischen Literatur (1980er / 1990er) und kulturelle Prägungen

RB:     Ab den 80er und 90er Jahren erscheinen dann Emine Sevgi Özdamars Sprachspielereien und Zwischenwelten (Das Leben ist eine Karawanserei), oder die Migranten-Untergrundwelt Zaimoglus (Kanak Sprak). Warum bekennt sich Zaimoglu so provokativ zur Kanak Sprak?

GH:    Bei Özdamar geht es zunächst um die kulturelle Eigenständigkeit derjenigen, die sich als weder deutsch noch türkisch, sondern als „deukisch“ sehen. Diese Menschen haben ihre Denk- und Handlungsoptionen vervielfältigt. Sie haben darin ihre Heimat gefunden, dass sie mit beiden Kulturen spielen, sich in beiden Kulturen bewegen können. Andererseits gibt es auch solche Nachfahren von Arbeitsmigranten, die einfach verharren und ihr Schicksal beklagen, und die sich weder mit ihren eigenen türkischen Wurzeln, noch mit ihren aktuellen Lebensumständen auseinandersetzen. Diese Menschen haben bestenfalls zwei halbe Heimaten oder eben gar keine. Bei Zaimoglus sehr umstrittener Kanak-Sprak hingegen sehen wir Ähnlichkeiten zur amerikanischen Black-Consciousness-Bewegung, zur Bekennung des vermeintlich Negativen. Diese Sprache ist aber literarisch konstruiert und entspricht nicht immer der Realität.    Es kommt vor, dass manche Jugendliche kein ordentliches Deutsch oder Türkisch sprechen können. Es gibt auch genauso Deutsche, die kein ordentliches Deutsch sprechen können. Es gibt da unvollständige oder kurze Sätze. Ich glaube aber, dass die Kanak-Sprak viel Spaß macht und von Jugendlichen teilweise bewusst eingesetzt wird, um in Rollen zu schlüpfen und mit Identitäten zu spielen. Die Sprache wird immer weiter ausgebaut und variiert. Ich würde der Problematisierung keine Bedeutung beimessen.

Deutsch-türkische Literaturformen ab 2000 bis heute

RB:     Ab 2000 sehen wir dann weitere deutsch-türkische Werke und Filme (Fatih Akin, Boga Dagtekin). Was kann man an diesen Beispielen erkennen?

GH:    Zunächst kann man erkennen, dass die deutsch-türkische Literatur immer vielfältiger wird. Die zunehmend kabarettistische Annäherung ist wunderbar, wie beispielsweise die Romane von Osman Engin mit Kanaken Gandhi, Getürkte Weihnacht oder Tote essen keinen Döner oder Kerim Pamuks Allah verzeiht, der Hausmeister nicht. Das sind tolle Bücher, voller Klischees, voller Vorurteile; aber nach beiden Seiten wird ausgeteilt und Interkulturalität wird auf eine besonders witzige Art und Weise in den Blick genommen. Auch humorvolle Filme wie Süperseks sind hier zu nennen. Ernstere Ansätze bringt Fatih Akin auf den Bildschirm. Gemein ist diesen Werken, dass der Blick auf kulturelle Unterschiede und interkulturelle Aktionen gerichtet ist.

Zuschreibungen: Deutsch-türkische Literatur bzw. deutsch-türkische Autoren

RB:     Ist es angebracht, immer noch von Migrantenliteratur oder der deutsch-türkischen Literatur zu sprechen, oder ist dies auch immer Teil von Ausgrenzung?

GH:    Zunächst halte ich den Begriff der Migrantenliteratur für verfehlt. Viele der Autoren sind ja keine Migranten mehr, sondern de facto Deutsche. Sie sind hier geboren, sie sind hier aufgewachsen. Ich glaube nicht, dass die Einwanderungsgeschichte der entscheidende Punkt ist. Ich glaube, ein Einteilungskriterium ist zu sagen: „Literatur, die sich explizit mit deutsch-türkischen Kulturunterschieden auseinandersetzt, muss als deutsch-türkische Literatur bezeichnet werden.“ Diese Form von Literatur ist folglich denkbar auf beiden Seiten. Also auch deutsche Autoren könnten solche Werke produzieren. Wenn es Werke sind, in denen das Deutsche und das Türkische thematisiert werden, dann kann man sagen, dass es deutsch-türkische Literatur ist. Die deutsch-türkische Literatur darf nicht an der Biographie der Autoren festgemacht werden, sondern an den Inhalten.

Islambilder und Zukunft der deutschen Gesellschaft

RB:     Wie sehen Sie die Zukunft der deutsch-türkischen Literatur und unserer Gesellschaft? Sehen sie ein fröhliches Multikulti oder eine gespaltene Gesellschaft?

GH:    Wenn ich das einmal wüsste! Schwierig geworden ist eine Verschmelzung innerhalb der Gesellschaft nach dem 11. September. Seit dieser Zeit erkennen wir eine zunehmend anti-islamische Propaganda und die Hinzunahme von Religionen als Differenzierungskriterium. Eine Gesellschaft, die sich als aufgeklärt rühmt, nimmt Religion fortan als Differenzierungskriterium und weist türkische Leute in erster Linie als islamisch aus. Islamisch wiederum ist seither potenziell terroristisch; so wird man schnell stigmatisiert. Wenn die anti-islamische Diskussion so weitergeht dann wird es natürlich nichts mit Multikulti und Interkulturalität. Ich glaube, dass der Ausgang noch offen ist. Eher werden heute tiefe Gräben gezogen und das sehe ich als sehr gefährlich an – für alle. Ich finde es schlimm, dass der Terror mit dem Islam in Verbindung gebracht wird. Kein wirklich gläubiger Muslim könnte sich auch nur im Ansatz damit identifizieren. Das geht überhaupt nicht.

RB:     Wir hoffen, dass wir die Gesellschaft durch einen gegenseitigen Dialog in Zukunft verbessern können. Erst durch ein Verständnis füreinander entsteht Verständigung.

GH:    Das ist eine Aufgabe, an der wir gemeinsam arbeiten müssen.

RB:     Vielen Dank, Frau Herchert, für dieses ausführliche und angenehme Interview!

Literaturverweise

  • Bade, Klaus J. (2000): Europa in Bewegung. Migration vom späten 18. Jh. bis zur Gegenwart. München: C.H. Beck Verlag.
  • Dirim, Inci / Auer, Peter (2004) Türkisch sprechen nicht nur die Türken. Über die Unschärfebeziehung zwischen Sprache und Ethnie in Deutschland. Berlin: De Gruyter Verlag.
  • Laudenberg, Beate (2004): Literarische „Länderkunde“ – der unbemerkte Aufbruch in der deutschsprachigen Migrantenlyrik der 90er Jahre. In: Kuruyazici, Nilüfer / Durzak, Manfred (Hrsg.): Die andere deutsche Literatur. Istanbuler Vorträge. Würzburg, S. 140-147.
  • Neubauer, Jochen (2011): Türkische Deutsche, Kanakster und Deutschländer. Identität und Fremdwahrnehmung in Film und Literatur. Fatih Akin, Thomas Arslan, Emine Sevgi Özdamar, Zafer Senocak und Feridun Zaimoglu. Würzburg: Königshausen & Neumann.
  • Wiese, Heike: Kietzdeutsch. Ein neuer Dialekt entsteht. München 20122
  • Yousefi Hamid Reza / Braun, Ina (2001): Interkulturalität. Eine interdisziplinäre Einführung. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft.
  • Zaimoglu, Feridun (1995): Kanak Sprak. 24 Mißtöne vom Rande der Gesellschaft. Hamburg: Rothbuch Verlag.
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